Arno Schmidt und sein "Zettels Traum"
Arno Schmidt (1914 - 1979) war ein avantgardistischer Schriftsteller, aber sicher kein Hypertextautor. Sein monumentales Spätwerk, der 1970 erschienene, 5000seitige Essay-Roman "Zettels Traum", weist indessen eine deutliche Tendenz zum Nicht-Linearen auf. "Zettels Traum" besteht durchgängig aus drei Spalten. Die mittlere Spalte ist die "Hauptspalte". Darin wird, auf 5000 Seiten wohlgemerkt, die "Handlung" des Romans entwickelt: der alternde Schriftsteller und Historiker Pagenstecher erhält an einem Sommertag Besuch von dem Übersetzer-Ehepaar Jacobi und deren 16jähriger Tochter Franziska. Man redet über Edgar Allan Poe - die Jacobis arbeiten an einer Übersetzung seiner Werke. In der linken Spalte stehen Zitate von Edgar Allan Poe - zum Teil verfremdet und verzerrt. Die rechte Spalte enthält Kommentare des Ich-Erzählers. Man kann die mittlere Spalte als "Pfad" ("trail") bezeichnen, die linke und die rechte Spalte als Instrumente für "Meta-Information".
Arno Schmidt schrieb sein "Zettels Traum" auf DIN A 3-Papier mit der Schreibmaschine nieder. Von Ted Nelsons Hypertext-Visionen, die zur Entstehungszeit von "Zettels Traum" bereits publik waren, wußte Arno Schmidt offenbar nichts. Die real existierende EDV hatte 1970 in der Tat wenig mit (Zettels) Träumen zu tun.
Zu Demonstrationszwecken wurde der Anfang aus "Zettels Traum" später mit der Hypertext-Software "Guide" als Hypertextdokument realisiert. Die Umsetzung zeigt, daß sich die Strukturen von "Zettels Traum" ohne weiteres mit den Techniken moderner Hypertext-Software abbilden lassen. Die Umsetzung zeigt damit auch, daß "Zettels Traum" - von Beginn an als Hypertext konzipiert - zur ersten literarisch ernstzunehmenden Hypertextbasis hätte werden können. Etwas Derartiges läßt weiterhin auf sich warten - weil kompetente Hypertext-Ingenieure zumeist keine begnadeten Literaten sind, und weil sich die meisten Literaten nach wie vor gegen die Faszination der EDV sperren.
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